`…No other film could more perfectly convey a devastating historical impasse simply through the choreography of the figures in a landscape…´
`…Hier gibt es keinen Raum für einen einfachen und integrativen `Humanismus´ in den physischen Bewegungen des Films: Damit ein Kontakt zwischen den beiden Figuren stattfinden kann, muss der `andere Abgrund´ erlebt werden. Diese `andere Lücke´ ist wichtig, weil ein bereitwilliger Humanismus, wie Zizek oft geäußert hat, einen falschen Friedenszustand schafft, indem er dem anderen sein eigenes radikales Anders-Sein entzieht...´
`Der Film, in dem der Wunsch, zusammen zu existieren, deutlich gelesen wird, lässt einen tiefen Eindruck bei dem Publikum mit seinen starken Bildern, auf die man sich zugleich mit Traurigkeit einlässt.´
`The vignettes of the two women’s gestures—including shots of their hair braided together, or of them appearing to fight like siblings … also evoked familiar, nostalgic sentiments around the subject of reconciliation.´
`Artworks such as those by Senem Gökçe Oğultekin featuring two dancers at the historical town of Ani [Dun (Home), 2018], … can help us imagine new ways of responding to the diversity of issues of urgency within the social framework. We currently live in a global world order composed of conflicting local-global dynamics, where single viewpoints have long lost their dominance and diversity has become the new norm.
`Kunst kann Grenzen aufheben. Meiner Meinung nach öffnet Oğultekin´s Arbeit ein neues Fenster und gibt dem Betrachter eine Sicht jenseits des `Wortes´…´
Die Zwei-Personen-Tanzperformance von Oğultekin in den Ruinen von Ani steht in engem Zusammenhang mit den Avantgarde-Werken von Maya Deren. Die Aufzeichnung der Aufführung innerhalb und außerhalb der Stein-, Gras- und Klosterstätten in Ani ist poetisch und lässt die performativen Spuren nicht vergessen. Im Gegenteil, der Film vermag es, die Zuschauer, obwohl sie sich nicht in Ani befinden, in sich hinein zu ziehen, als ob sie dort wären. Dies ist ein wichtiger und seit langem vernachlässigter Videoansatz.
Die Kritik in `The Guardian´ bei Laura Cumming:
`With the latest edition (Artist´s Film International) comes a tremendous new work called Dun (Home), by the Turkish artist Senem Gökçe Oğultekin (born 1982). It opens with the most startling pan across the parched and stony highlands of eastern Turkey, homing in on the bare feet of a girl clambering over sharp rocks. These rocks turn out to be broken stones of spectacular ruins: octagonal churches, circular spires, the choirs and apses of ancient Christian buildings. The faces of saints have fallen from the walls, leaving ghostly white ovals; empty windows, carved of rose-red sandstone, frame from on high the plunging valleys below.
Another girl appears and the two gravitate together, twining, dancing, gliding among the ruins and the landscape like the silent ladybirds and chameleons intermittently shown in closeup. These girls might be sisters, perhaps even twins – together but opposed, alike but bent on independence. A marvellous sequence shows them with their long dark hair knotted together as they pull apart; a sibling civil war.
Even if you don’t recognise the ruins of Ani, a medieval Armenian city on the closed border with Turkey, you have the sense of a no man’s land, a world lost between two nations. Yet for each girl this place is home, so familiar one sleeps on a perilous window ledge and the other folds herself into the toppled stones of a door.
Their hands bend with the shape of the sparkling river, their mouths brush the wild flowers, their feet fit delicately between stone and crevasse as they part and reconcile and part. No other film could more perfectly convey a devastating historical impasse simply through the choreography of figures in a landscape.´
Übersetzung eines längeren Auszugs aus der Kritik in `Art Unlimited´ über `Dun/Home´ von Ahmet Ergenc
`… Hier gibt es keinen Raum für einen einfachen und integrativen `Humanismus´ in den physischen Bewegungen des Films: damit ein Kontakt zwischen den beiden Figuren stattfinden kann, muss der `andere Abgrund´ erlebt werden und die beiden Figuren werden eine gewaltsame Kollision haben. Diese `andere Lücke´ ist wichtig, weil ein bereitwilliger Humanismus, wie Zizek oft geäußert hat, einen falschen Friedenszustand schafft, indem er dem Anderen sein eigenes radikales `Anders Sein´ entzieht. Dies bedeutet, dass die einzige Möglichkeit für Menschen, mit anderen radikal `anderen´ Menschen in Kontakt zu treten darin besteht, diese Anderen auf diskursiver Ebene zu homogenisieren (wie in dem Refrain des Liedes: `wir sind alle Brüder´). Das ist die Stelle, wo sich der Humanismus tatsächlich in einen reduktiven, apolitischen Mechanismus verwandeln kann.
Anstatt sich an einen einfachen und nicht überzeugenden Diskurs zu lehnen, wie zum Beispiel zu sagen, dass `die Eingeborene von Ani´ nicht als `die Andere´ angesehen werden soll und dass wir alle gleich sind, baut der Film diese fiktive Ani-Eingeborene durch einen radikal außergewöhnlichen Charakter, einer leicht `wilden´ und undurchdringlichen Figur auf (dies ist eine `Wildheit´, die etwas an die Charaktere in Reha Erdem-Filmen erinnert).
Um diese radikal-andere Figur zu kontaktieren, muss der Gast eine Einweihung durchlaufen. Teil dieser Zeremonie ist es, mit dieser Figur einen gewalttätigen und `ungeschickten´ Tanz zu führen. Diese physische Inkompetenz und `Inkompatibilität´ ermöglicht es beiden Seiten, ihre eigenen anderen zu billigen. Ich denke, das ist es, was dieser Kurzfilm am besten kann: einen gewalttätigen und echten Kontakt mit dem Anderen zu haben, ohne zu versuchen, den Anderen zu zähmen.
Bei diesem gewalttätigen Tanz fallen einige Körperteile auf: Haare, Hände, Ohren, Augen und so weiter. Der Fokus der Kamera auf diese Gliedmaßen spürt gleichermaßen die Anwesenheit des “Körpers” und auch die Intensität des Kontakts (inkompetent) zwischen den beiden Körpern. Diese augenblicklichen, fragmentierten und “prüfenden” Kontakte mit Steinen und den Mauern der Stadtruine treten zwischen den beiden Körpern auf. Eine der beeindruckendsten Szenen des Films zeigt die Haare der beiden zusammengebundenen Figuren. Diese Szene erinnert an das berühmte Video, das Abramovic und Ulay miteinander verbunden haben; hat jedoch einen eher gegenteiligen Effekt. In dem Video von Abramovic und Ulay Video wird eine Erfahrung gezeigt, indem sie ihr physisches Wesen vergessen und nach einem 17 Stunden langen Prozess einen meditativen Zustand erreichen. In der kurzen Szene in `Dun/Home´ geht es um die physische Spannung und die intensive Präsenz des Physischen. Man kann sagen, dass diese körperliche anstrengende Bindung eine Reaktion in diesem ineinandergreifenden, aber divergierenden Haar findet. Auf diese Weise kommen sich zwei Figuren, die sich zuerst als zwei Körper kennen und ihre radikalen Rebellionen mit Spannung, Eile und Atem erleben, langsam näher.
Die aus Ani stammende Figur öffnet dem Gast erst nach diesen gewaltsamen Zusammenstößen die Tür ihres Hauses (die Tür einer verlassenen Kirche). Dies ist ein Prozess der allmählichen Kollision, der nicht in die `politisch´ lähmenden Fallen der `humanistischen´ Sichtweise fällt, vorausgesetzt, dass Diejenigen, die Verbindungen zu Ani haben, jeden Versuch, Kontakt herzustellen, sofort annehmen müssen und dass eine Verschmelzung (`gegenseitiges Verständnis´) sofort erlebt werden kann. Bis zu diesem Moment der Akzeptanz hat die Tatsache, dass der skeptische und `wilde´ Ausdruck auf dem Gesicht der Wirtsfigur niemals nachlässt, eine große Bedeutung für die Identitätspolitik: Es gibt keine Figur, die leicht `erfasst´ werden kann, sondern eine Figur, die auf ihrer eigenen radikalen Regel besteht.
Dies ist der Grund, warum die beiden Figuren nicht mehr `kollidieren´, sondern in einem Fluss zusammen tanzen, nicht romantisch, sondern real. Um gemeinsam in den Ruinen von Ani zu tanzen, muss man stellenweise zusammen zwischen den Steinen kriechen. Damit sich die beiden Figuren im physischen Sinne “gegenseitig berühren” können, nicht so metaphorisch wie am Ende des Films, müssen sie zuerst den Staub in den Rauch dieser Überreste geben. (Jeweils: Stein, Staub, Tanz.) Es ist also notwendig, die Geister der Traumata, die diese Überreste enthalten, physisch zu erleben. In diesem Sinne scheint `Dun / Home´ einen Weg gefunden zu haben, `das Unerklärliche zu erklären´. Nicht zu erzählen, durch Affekte wiederherzustellen: Wie Deleuze sagt, ein Gefühl zu erzeugen, keine Repräsentation. (1) Daher, um zu einem prä-kulturellen Zustand zurückzukehren, physische Existenz und die Metaphern zu ersetzen, nicht die Geschichte.
Die Choreografien im Film haben auch einen Artaudesk-Effekt: Artaud sagte, dass in seinem vorgeschlagenen Theatermodell die Kraft der Geste und Bewegung relevanter war als die Kraft des Textes (gewissermaßen Metaphern). Dank all dieser Gesten und Bewegungen kann dieser Kurzfilm Ani´s Geschichte, Staub, Stein und Geister auf intensive Weise fühlen lassen.
Nichanian fragte, wie Literatur “unerklärliche” Katastrophen beschreiben könne, und sagte, das einzige Mittel sei, die Literatur selbst zu stören und Literatur mit Katastrophen zu vergleichen. Mit anderen Worten, Literatur sollte keine informative Katastrophe sein, sondern etwas, das das Gefühl dieser Katastrophe auffängt und sich mit diesem Gefühl verbiegt. Dieser Kurzfilm macht etwas ähnliches: Ani mit Tanz und Bildern zu erzählen (indem er es nicht erzählt.)
Am Ende des Films sehen wir, dass die beiden auf einem Hügel tanzenden Figuren nebeneinander tanzen, ohne sich zu berühren. Vielleicht ist dies der Punkt, der erreicht werden muss. Nach intensivem Kontakt und reden über alles (mit Gesten, Blicken, Stille usw.), sich voneinander zu befreien. Und dann, wie Lale Müldür sagte: `Mit Tanzschritten aus dem Tanzkreis gehen.´
AHMET ERGENC
*Art Unlimited ist die wichtigste Kunstkritikzeitschrift der Türkei.
ALS TÄNZERIN UND PERFOMERIN
Reinhard Brembeck – Süddeutsche Zeitung über “auf Kolonos” von Laurent Chétouane:
…Brillant sind die beiden durch schlichte Traumsicherheit verblüffenden Tänzer*innen Senem Gökce Ogultekin und Ian Kaler …
Sacré Sacre du Printemps / Ruhrrtriennale/ Pact Zollverein
Kritik über Tarnopolski ́s Oper : “Jenseits der Schatten” im Beethovenfest:
… Gegen Ende tanzen der einzige befreite Höhleninsasse und eine weiße weibliche Lichtgestalt (Frey Faust und Senem Gökçe Oğultekin) ein großes Pas de deux von lyrischer Innigkeit und expressiver Akrobatik.
Kritik über “Bach/Passion/Johannes” in www.tanz.at:
…die weil die Tänzerin Ogultekin die letzte Arie der Passion „Zerfließe, mein Herze, … Dein Jesus ist tot“ singt. Ein zu Herzen gehender Moment…
Kritik über “Bach/Passion/Johannes” in European Cultural News
…Die Rezitative stehen plötzlich im Mittelpunkt
In dieser Inszenierung jedoch, die im Herbst vergangenen Jahres ihre Uraufführung in Hamburg erlebte, sind es nicht zuletzt gerade diese Rezitative, die das Publikum fesseln, betroffen machen und in das Geschehen sogar mit einbeziehen. Dabei schreiten die Tanzenden und Singenden häufig auf das Publikum zu, nimmt Oğultekin immer und immer wieder intensiven Blickkontakt mit den Menschen in den Sitzreihen auf und kreiert so eine Stimmung, in der schließlich die Musik als willkommene Ablenkung zum grausigen und blutrünstigen Geschehen wahrgenommen wird, das kaum auszuhalten ist. „Habt ihr verstanden, was ich euch erzähle?“ ist die Metabotschaft ihrer Bühnenpräsenz. Mit traurigem Blick und hängenden Schultern, dabei aber völlig unaufgeregt, erzählt sie die Vorkommnisse der letzten Tage von Jesus. Dabei…